Buch „Lebens-Bahnen. Persönlichkeiten aus Stuttgarts Nahverkehr“
Band 4: Von der Illusion in die Moderne – 1946 bis 1969
Claudia Lorenz
Lebens-Bahnen heißt die Buchreihe der SSB über einstige Persönlichkeiten im Stuttgarter Nahverkehr, namentlich über frühere Vorstände der SSB. Nun ist Band 4 erschienen. Er betrifft die Phase von Wiederaufbau und Konsolidierung bis Ende der 1960er Jahre.
Fahrzeuge, Linien, Technik – das sind grundsätzliche Themen, wenn es um die Literatur über Straßenbahnen geht. Doch Menschen, Persönlichkeiten müssen das oder die Straßenbahnunternehmen leiten. Um diese Gründer, Direktoren oder Vorstände und ihr Wirken beim Nahverkehr in Stuttgart geht es in der Buchreihe, welche die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) 2018 begonnen hat – unter dem sprechenden Namen Lebens-Bahnen. Jetzt liegt der vierte Band vor. Er behandelt die Führungskräfte der Zeit etwa zwischen 1946 und 1969.
‘Von der Illusion in die Moderne“ heißt der Untertitel dieses Bandes. Denn an Erkenntnissen und Ideen zur Verbesserung des ÖPNV fehlte es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht, auch nicht an Aufgaben, im Gegenteil: Gerade in Stuttgart stieg durch die Ansiedlung der Heimatvertriebenen und die Gründung neuer Stadtteile auf der Grünen Wiese die Verkehrsleistung des ÖPNV so massiv an wie noch nie.
Zu den Personen
Fünf Vorstände waren in dieser Zeit für die SSB tätig: Der Baufachmann und Rechtskundige Wilhelm Schrag, ein energischer, engagierter Quereinsteiger, nahm die finanziellen Geschicke der SSB in die Hand und wollte die technische Modernisierung einleiten, doch seine Lebensspanne war zu kurz dazu.
Otto Bosler war der erste formal als Kaufmännischer Vorstand berufene Chef bei der SSB. Der persönlich bescheidene Quereinsteiger lotste das Verkehrsunternehmen gut durch Währungsreform und Wirtschaftswunder.
Alfred Bockemühl gab den Paradiesvogel unter Deutschlands Straßenbahndirektoren – ein technisch und ästhetisch brillanter Philosoph auf Schienen, eine geistig ungemein rege und vielseitige Persönlichkeit mit Rückgrat. Bockemühls Ansätze für die Zukunft des Öffentlichen Nahverkehrs waren konsequent, wurden aber von den Realitäten überholt.
Wilhelm Speh betrieb als eiserner Finanzmanager der SSB konsquent die Rationalisierung und stellte Stuttgarts kommunalen Nahverkehr auf ein solides wirtschaftliches Fundament.
Helmut Seeger war der heimliche technische Universalherrscher über die SSB. Seine eigentliche Karriere startete für ihn zu spät. Der undiplomatische, aber unentbehrliche Allroundfachmann und geplagte Praktiker trug seine Haut für seinen Beruf zu Markte.
Zum Inhalt
Was war zwischen 1946 und 1969? Die durch Rüstung und Krieg unterbrochene Modernisierung des Straßenbahnverkehrs und sein Ausbau mit ganz neuen Linien weit in die Region hätte mit großen Schritten bevorgestanden: wenn nicht die Kommunalpolitik (parallel zur Bundespolitik) beschlossen hätte, zugunsten der wirtschaftlich schwachen Neubürger die Tickettarife „einzufrieren“. So konnten die Verkehrsunternehmen – hier wie anderswo, ob kommunal oder bundeseigen – ihre Einnahmen nicht an die mit dem Wirtschaftswunder sprunghaft steigenden Kosten anpassen. Innerhalb kürzester Zeit wandelten sich die Verkehrsbetriebe (und damit auch die SSB) von achtbaren Kapitalgesellschaften mit solider Verzinsung zu Verlustbringern – ohne eigenes Verschulden.
Damit wurde aber die dringend nötige Sanierung des Fahrzeugparks ebenso gehemmt wie die geplanten Neubaustrecken in die neuen Stadtteile – die hervorragenden und notwendigen Ansätze endeten als Illusionen. Obwohl schon damals bekannt war, dass der Omnibusverkehr weitaus weniger leistungsfähig und beim Publikum meist weniger beliebt, aber betrieblich teurer als der Schienenverkehr war und im Gegensatz zu jenem oft unrentabel, musste auch die SSB nolens volens ihr Busnetz stark ausweiten. Das Konzept einer Schnellstraßenbahn von der Stadtmitte auf die Filder wanderte in die Archive (stattdessen wurde es dann von der Deutschen Bundesbahn in Gestalt der S-Bahn aufgegriffen).
Die Schlussphase der im Buch beschriebenen Epoche mündet in die Zeit des Beginns des Baues unterirdischer Straßenbahnstrecken, ab Anfang der 1960er Jahre. Von der Fachbranche seinerzeit bejubelt, mussten die Verkehrsunternehmen und ihre kommunalen Eigentümer viel Geld aufwenden, um zwar wieder rascher voranzukommen – aber die nach und nach gleislosen Innenstadtstraßen erst recht für den Autoverkehr zu öffnen.
Insofern bildet das Buch einen aufschlussreichen Einblick in die Denk- und Vorgehensweise zur Verkehrspolitik und -planung der 1950er und 1960er Jahre, deren Ansätze sich nicht immer als Lösungen erwiesen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Tarifgestaltung im ÖPNV, Stichwort Deutschlandticket, gewinnt die im Buch dargelegte seinerzeitige Entwicklung in Sachen der Tarifpolitik und Einnahmesituation eine erstaunliche Aktualität.
Zum Hintergrund
Seit über 150 Jahren gibt es öffentliche Verkehrsmittel in Stuttgart: 1868 nahm die Pferdebahn in der Landeshauptstadt ihren Betrieb auf. 1886 streckte die zweite Pferdebahngesellschaft ihre Schienen aus. 1889/90 vereinigten sich beide Betriebe, seither gilt die Firmierung Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB). Doch erst 50 Jahre nach der ersten Firmengründung, 1918, wurde das Verkehrsunternehmen zur kommunalen, städtischen Einrichtung.
Es brauchte und braucht energische Gründer und beharrliche Vorstände, um Aufbau und Bestand, Wandel und Konstanten voranzubringen und zu erhalten, um die Doppelrolle zwischen betriebswirtschaftlichem Zwang und öffentlichem Anspruch zu erfüllen. Es spricht für diese Aufgabenstellung, dass für viele dieser Persönlichkeiten die Tätigkeit bei der SSB, für Stuttgarts kommunalen Nahverkehr, gleichzeitig auch zu einer weitgehenden Lebensaufgabe geworden ist oder immer noch wird.
Lebens-Bahnen heißt deshalb die Buchreihe der SSB. Denn über das Unternehmen SSB ist vieles bekannt, wenig jedoch bisher über seine Persönlichkeiten. Ihre Herkunft, ihr Werdegang, ihre Fähigkeiten und ihre Erfahrungen sind es wert, vorgestellt zu werden.
Zum Buch
Recherche und Text für den neuen Band lagen wieder in der bewährten Hand der Stuttgarter Historikerin Claudia Lorenz, die Redaktion und Bildbeschaffung übernahm die Pressestelle der SSB.
Mit über 150 Fotos und zeitgenössischen Grafiken, darunter einiges in Farbe, bietet das Buch parallel zum Text einen breiten Überblick über die Entwicklung der SSB in der Phase des Wirtschaftswunders. Zahlreiche oft bisher unveröffentlichte Aufnahmen beleuchten Technik, Stadt- und Verkehrsentwicklung, Zeitgeschichte, Zeitkolorit und natürlich die Menschen, Mitarbeiter und ihre Lebensumstände.
Damit füllt dieses Buch eine Lücke in der SSB-Chronik und zu diesem Aspekt der Geschichte der Landeshauptstadt.
Bisher erschienen:
Band 1 (2018) | Schienen durch die Stadt | Zeitraum etwa 1868 – 1900
Enthält die Würdigung von: Georg Schöttle | Alwin Moser/Isidor Jordan/Jakob Hiller | Georg Dinkel | Emil Kessler junior
Band 2 (2019) | Zwischen Kommerz und Kommunalisierung | Zeitraum etwa 1900 – 1925 |
Enthält die Würdigung von: Ernst Lipken | Heinrich Mayer | Paul Loercher | Valerian Ott
Band 3 (2020) | Bewahrung und Bedrohung | Zeitraum etwa 1920 – 1945
Enthält die Würdigung von: Heinrich Ling, Josef Dobler, Walter Schiller und Alfred Liersch
Geplant:
Band 5 | Zeitraum etwa 1970 – 2000 | Erscheinung voraussichtlich 2025
Eigenverlag Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB)
256 Seiten, 19 x 27 cm, rund 170 SW- und farbige Abbildungen. Broschiert.
ISBN 978-3-9819803-3-2. Preis 15,80 Euro
Enthält die Portraits von: Wilhelm Schrag, Otto Bosler, Alfred Bockemühl, Wilhelm Speh und Helmut Seeger.
SHB-Artikelnummer: 10 100 00034
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